Aktion: Tour durch 8 Städte mit Straßen- und Kneipenmusik


Im Gedenken an Cathi und die anderen drei Unfallopfer vom 04.06.2005 mache ich eine Tour durch 8 Städte. Auf dem Programm steht Straßen- und Kneipenmusik aus meinem Repartoire von Singern/Songwritern, Bands und deutschen Liedermachern. Mit meiner Aktion möchte ich den neugeründeten Verein "Bürgerstiftung Raser Täter Opfer" unterstützen. Ich möchte Werbung für diesen Verein machen und Spenden für die Stiftung sammeln. Gleichzeitig nutze ich die Chance und besuche gute Freunde, die ich zum Teil lange nicht gesehen habe.


Tourplan:


Vorbereitung - Berlin
03.06.2006 - Berlin
04.06.2006 - Doberlug-Kirchhain
05.06.2006 - Suhl
06.06.2006 - Leipzig
07.06.2006 - Bad Salzungen
08.06.2006 - Bad Homburg
09.06.2006 - Schwerin
10.06.2006 - Sassnitz

Details:


Tagebucheintrag: Vorbereitung

Ab 01. Juni ging es in die ganz harte Vorbereitung. Ich hatte mit Robert, meinem Ex-Stiefsohn, vereinbart, dass er mir wieder ein Plakat anfertigt. Wir trafen uns in meiner Stammkneipe "drittes Ohr", wo Tom, der Kneiper, gleich 2 Plakate aufhängte. Schade, dass der Entwurf meines Geurtstagsplakats nicht mehr aufzufinden war, aber nochmal ein großes Dankeschön an Robert für die schnelle Hilfe. Am 02. Juni fiel mir dann noch ein, dass ein Tour-T-Shirt nicht schlecht wäre. Ich stoppelte schnell einen Entwurf in Word zusammen. Der erste Laden in der Warschauer Straße im Friedrichshain konnte dieses Format aber leider nicht verarbeiten. Aber der Typ war nett und empfahl mir einen anderen Laden in der Grünberger Straße, "alpha-print", quasi um die Ecke. Dort meinte man bis Dienstag könne man die Sache realisieren. Nach einem kurzen Gespräch einigten wir uns dann doch noch auf den nächsten Tag, denn da wollte ich schließich das Teil schon tragen. Das klappte auch. Leider fiel die Schrift etwas zu klein aus, aber wenn man solche Sachen immer auf den letzten Drücker macht, kommt sowas halt zustande. Nun ja, was zählt, ist die Idee.

Am Sonnabendvormittag überkam es mich noch siedendheiß, dass ich kein ordentliches Plektrum (Plastikblättchen für die Gitarre) mehr hatte. Ich fand einen Musikladen in der Warschauer Straße, "Noisy". Auf dem Weg dahin traf ich noch einen ehemalige Soldaten aus meiner und Peters (siehe Bad Salzungen) Einheit in Dermbach. Ich erzählte kurz, was ich vorhatte. Natürlich gab er mir schöne Grüße an "Pit", unseren alten Chef, mit. Bei "Noisy" wühle ich mich durch einen Haufen Plektra (endlich kenne ich nun die korrekte Pluralform von Plektrum). Alles ist freundlich, bis ich nach Akustik-Gitarren frage. Auf Rückfrage bekenne ich, dass ich sehr gerne Takamine spiele. Ich erhalte aus einem frosterstarrten Gesicht den Hinweis: "So teure Sachen führen wir hier nicht, wir sind nur ein kleiner Laden". Auweia - Fettnapf, aber bei 4 Etagen ein kleiner Laden ?

Nun bin ich komplett ausgestattet. Für die Gitarre sind die über ebay gekauften Sachen, Saiten und ein neuer Gurt, auch rechtzeitig eingetroffen. Es bleibt mir noch, einen letzten Entschluss zu fassen und mir einzuhämmern. Während der Tour wird kein Alkohol getrunken. Erstens wäre es kontraproduktiv zum Anliegen und zweitens leidet die Stimme unter den Nachwirkungen. Ich beschließe, nur Kamillentee, Wasser und in Ausnahmefällen Apfelschorle zu trinken.


03.06.2006 - Berlin

  • ab 20:00 Uhr Auftaktkonzert in der Musikkneipe "drittes Ohr"
    Meine Stammkneipe muss mal wieder herhalten. Unter dem Motto "Grübeln am Straßenrand" gibt es ein paar Songs. Obwohl der Anlass ein ernster und trauriger ist, werde ich sicher keine Trauerfeier daraus machen.
     
  • Alle sind herzlich eingeladen. Eintritt ist frei, aber Spenden für die Stiftung sind erbeten.
    (Und denkt daran: Homedrinking is killing Gastwirt!
    Aber denkt auch daran: Kein Alkohol am Steuer!)
     
  • Adresse:
    "drittes Ohr" Musikkneipe im Friedrichshain
    Matternstraße 14
    10249 Berlin
     
  • Wegbeschreibung "drittes Ohr" (Word2000-Dokument - 37 KB)
  • Wegbeschreibung "drittes Ohr" (RTF-Dokument - 375 KB)

Tagebucheintrag: Berlin

Es war ein schwieriger Beginn für mich. Um 20:00 Uhr war ich noch allein im "Ohr". Eine Stunde später waren es bereits 4 Zuhörer. Das war ein guter Grund anzufangen. Also begann ich, für Matthias, Lutz, Jan und Mario zu spielen. Kurz nach dem Beginn kamen noch Ralf und Cindy dazu. Damit ist der Kreis der Stammzuhörer bereits genannt. Fine und Wolle, die "diensthabenden Tresenkräfte", ließen sich auch immer wieder im Hinterzimmerchen zum Lauschen nieder. Weitere nichtständige bzw. vor dem Raum sitzende "passive" Zuhörer komplettierten die Gesamtzahl auf 16 Leute.

Die Mugge lief über mehr als 3 Stunden. Ich ließ mich über weite Strecken treiben. Spielte auch Titel auf Zuruf. Nahezu peinlich wurde es, als ich bei "Summer in the City" einen kompletten Blackout hatte. Ich spiele das Ding seit fast sieben Jahren, es klappte immer. Und plötzlich sind an einer Stelle die Harmonien aus meinem Kopf gelöscht. Ich denke doch nicht darüber nach, wie ich was spiele. Da ist nahezu alles automatisiert. Ich probiere und probiere, aber Väterchen Alzheimer hat gründlich genagt. Erst zu vorgerückter Stunde kommt die Erinnerung wieder, ich kann mich rehabilitieren. Aber auch und gerade vor Freunden ist mir sowas peinlich. Eigentlich wollte ich die heftigen Stimmbandreißer weglassen. Lediglich als Test hatte ich "Downeaster Alexa" von Billy Joel mit ins Programm genommen. Aber meine Fans überredeten mich, "Miss American Pie" zu singen. Die Stimme hielt, aber es hat ganz schön wehgetan. Es wurde keine Trauerveranstaltung, es war einfach eine schöne lockere Sache. In den Gesprächen am Rande kamen dann auch Sätze wie: "Du, die vier sitzen bestimmt da oben, hören zu und Cathi freut sich auf jeden Fall." Und genau dieses Gefühl hatte ich auch.

Um zwei Uhr früh bin ich zuhause. In knapp 3 Stunden stehen die Freunde und Verwandten der vier an der Unfallstelle. Ein Jahr ist es dann schon her ...

Gegen 2:10 Uhr schicke ich noch eine SMS an Cathis Mutter Kerstin. "Bin bei Euch! Reni", dann zieht es mich ins Bett. Aber die erhoffte und notwendige Ruhe findet sich nicht. Um 4:30 Uhr ruft mich ein plötzlich auftretender Durchfall auf die häusliche Keramik. Einigermaßen erleichtert bin ich nun aber munter genug, um 04:52 Uhr mit meinen Gedanken wirklich bei Cathi und den Rüganern zu sein. Kurz bevor ich wieder einschlafen kann, muss ich allerdings ein wenig grinsen, als ich nochmal auf mein Tour-T-Shirt guckte. Das Motiv zeigt mich nackt in der Rodin'schen Denkerpose auf einer Toilettenschüssel am Straßenrand. Das war also ein Tourauftakt nach Maß.


04.06.2006 - Doberlug-Kirchhain

  • Ich besuche meinen alten Studienfreund "Raschi". Wir haben zusammen in Berlin die Kulturwissenschaften aufgesogen, um dann Politikwissenschaftler zu werden (die Wende machte so manches möglich).
    Ich spiele in der Zeit etwa von 12:00 Uhr bis 14:00 Uhr in der "Gaststätte Zierenberg" in Schacksdorf. Danach gibt's noch etwas Straßenmusik in Doberlug-Kirchhain. Mal sehen, was geht.

    weitere Informationen zur Gaststätte Zierenberg unter: http://www.gaststaette-zierenberg.de

Tagebucheintrag: Doberlug-Kirchhain

Früh ging's nach Doberlug-Kirchhain. Die Nacht war doch zu kurz. Jens holte mich am Bahnhof ab. In einer Stadtrundfahrt ging es durch Doberlug und Kirchhain. Ich wurde schnell und gründlich in die historisch gewachsenen Verhältnisse zwischen den Orten eingewiesen. Ein herzliches Dankeschön an Jens, vor allem für die interessante Geschichte der Weißgerberei. Es ging kurz zu Jens nach Hause und dann gleich weiter zur Gaststätte Zierenberg in Schacksdorf.

Im Gastraum saßen 12 Gäste. Mit Frau Zierenberg, ihrem Sohn und zwei noch später Hinzugekommenen wären wir wieder bei 16 Leuten gewesen. Da aber auch Jens zuhörte, waren es 17. Es gab meine Standarderöffnung für die Tour mit "On the road again" von Willie Nelson und "Don't let it bring you down" von Neil Young. Die Resonanz war sehr positiv. In kurzen Ansagen erläuterte ich den Sinn und Inhalt meiner Tour. Im Anschluss an die reichliche halbe Stunde sammelte ich 28 Euro an Spenden ein. Frau Zierenberg war etwas traurig, dass nicht noch mehr Leute den Weg zu ihr gefunden hatten, es läge wohl am Wetter. Mir machte das nicht allzuviel aus. Für mich war es ein gelungener Tourauftakt, und dafür möchte ich ihr hier noch einmal ganz besonders danken.

Jens schlug vor, noch zu einer Gaststätte in der Calauer Schweiz zu fahren. Dort könnten um die Zeit viele Gäste sein. Wir leisten uns einen Umweg zu einem alten Tagebaugroßgerät. Es ist dabei genug Zeit, über die Konzert- und Kulturprojekte der Gegend und speziell über die seines Chefs zu plaudern. Jens ist immer noch der Alte, und mich freut's.

Wir kamen zu besagter Gaststätte, idyllisch gelegen, ein Paradies für Hochzeiten. Entsprechend geschmückte Wagen stehen auf dem Parkplatz. Beim Eintritt in den Gastraum standen wir plötzlich vor einem Mann in blauen Nadelstreifen und dickem Schlips. Da wäre ich fast schon umgekehrt. Jens stellte das Projekt kurz vor, verbunden mit der Bitte, ob ich dort spielen könnte. Der Mann zeigte sich wenig begeistert. Da wäre ich fast schon wieder umgekehrt. Da aber tat Jens etwas, was er im nachhinein als das "Darstellen seines Standpunktes" bezeichnete, freundlich, höflich, bestimmt - versteht sich. Kurz und gut, wir bekamen einen Tisch und ich die Möglichkeit zu spielen. Zunächst fragte die Chefin noch nach, ob ich denn kein Mikro bräuchte. Großer Raum mit niedriger Decke und glatte Neubauwände - da brauche ich doch kein Mikro! Nach dem dritten Titel bekam ich von einer Kellnerin den Hinweis, ich wäre zu laut. Also spielte ich noch einen ruhigen Titel zum Abschluss, "City of New Orleans", und ging an den Tischen rum. Die rund 20 Leute waren sehr aufgeschlossen. Ich sammelte ca. 18 Euro.

Wieder bei Jens fertigte dieser für mich noch ein Schild an, welches in meinen Gitarrenkoffer angeklebt als Werbung für den Verein dienen sollte. Es hat mir später bei meinen Straßemmuggen gute Dienste geleistet. Am Abend gab es noch ein kleines Privatkonzert für Jens und seine Frau Birgit. Jens hatte ich zuletzt vor 8 Jahren, bei der Abschiedsmugge meiner Band und Birgit gar vor 12 Jahren zuletzt gesehen. Ich danke den beiden für die freundliche Aufnahme, das Nachtlager und für die Musik-CD's. Aber das eigentlich Besondere dieses Auftakts war, dass Jens mit seiner Art Maßstäbe für den weiteren Verlauf meiner Tour gesetzt hatte. Beim Wegfahren hatte ich jedenfalls den Gedanken: "So kann's weitergehen". Danke mein Alter!


05.06.2006 - Suhl

  • Da haben wir die erste Umplanung. Eigentlich sollte es am 05.06. nach Leipzig gehen, aber mein alter Studienfreund Mike hat nur noch an diesem Tag Zeit. Es gilt ja nicht nur, sich nach Jahren mal wieder ins Auge zu sehen, sondern auch einen Abschied voneinander zu nehmen. Er geht nach Schweden. Und wie es scheint für immer. In Suhl muss ich sehen, was geht. Straßenmusik wo auch immer Menschen laufen und das Wetter es zulässt.

Tagebucheintrag: Suhl

Die Nacht war nicht die beste. Der Hals fühlte sich wund an und die Stimmbänder waren geschwollen. Ich dachte bereits über einen Abbruch der Tour nach, aber eigentlich kam das nicht in Frage, und zum Morgen hin verkrümelte sich der Gedanke wieder. Außerdem entschied das Leben, der alte Sack, die Sache eh auf seine eigene Weise. Nach dem Frühstück fuhr mich Jens zum Bahnhof. Dann ging es über Riesa und Erfurt nach Suhl. Mike stand am Bahnhof in leicht verkrampfter Haltung. Er hatte es im Kreuz. Eine Kneipentour kam also nicht in Frage. Für die Straße war es zu feucht und vor allem zu kalt (11 Grad im Juni!). Also fiel der Entschluss leicht, die geplagte Stimme zu schonen.

Wir fahren zu Mikes Haus, das er bald vermieten wird, da er seinen Hauptwohnsitz nach Schweden verlegt. Seine Frau arbeitet bereits dort, ich lerne sie also nicht direkt kennen. Wir sind an diesem Abend lediglich mal per Videotelefon über's Internet verbunden. Ich komme aus dem Staunen nicht raus: Mike mit Haus, Hund und Katze! Mit seinen Söhnen Ben und Johannes tranken wir Tee und teilten uns den Kuchen, dessen Kleinheit die Spottlust der Jungs anheizte. Noch mehr aber führten die Rückenbeschwerden zu arg lästerlichen Bemerkungen über diese Ableblinge und Lebensendfiguren jenseits der Vierzig. Ich wiederum sah die beiden Jungs wieder vor mir, wie ich sie kenngelernt hatte. Als dicke Bäuche ihrer Mutter Sonja, an deren Brust, im Kinderwagen, im Kinderbettchen. Verdammt, es fiel mir wirklich schwer, nicht in den Duktus "Gott, was seid ihr groß geworden" zu verfallen.

Mike zeigte mir seine Arbeit, interaktive Datenbankschulungen in Form von e-lerning mit Videosequenzen, Erläuterungen in Deutsch und Schwedisch. Ich spürte Mikes Begeisterung für diese Sachen. Es sind Dinge, die Krativität, Genauigkeit, Gründlichkeit, Fach- und Sachkenntnisse verlangen. Ich kenne diese Seite an ihm aus seiner Arbeit an den Texten zu seinen, unseren Programmen. Da ich seinen Spaß an der Sache spürte, beschloss ich, mein Lieblingsstreitthema, warum er keine Gedichte mehr schreibt, fallen zu lassen. Dies ist es, was ihn jetzt in Anspruch nimmt und er will es so.

Wir gingen noch mit dem Hund spazieren, Ronja, einem zehn Jahre alten Collie. Als wir zur Kneipe in der Nähe gingen, begleitete uns die Katze bis zur Eingangstür, musste allerdings draußen bleiben. Wir tauschten keine wehmütigen Erinnerungen aus, zu einmütig waren wir uns schon seit Jahren in den Ansichten über eine ganze Reihe von Idioten, die unseren Lebensweg gekreuzt hatten. Führend in dieser Hitliste immer noch der Kommandeur der Militärpolitischen Hochschule. Mike nutzte die Gelegenheit, mir noch einmal seine Meinung über meine Ehe und über meine Zeit mit der Band zu sagen. Ich kannte seine Ansichten und bin eigentlich zu diesen alten Entscheidungen mit mir im Reinen, wir mussten uns da also nicht streiten. Wir merkten dann aber doch noch, dass wir alt werden. Wir sprachen über Leute, die nicht mehr unter den Lebenden sind, ich über Mischka und Cathi, er über Sonja. Als das Gespräch von dem toten Liedermacher Gerhard Gundermann auf den lebenden Hans-Eckard Wenzel kam, blitzte der alte Mike wieder auf. Die neuen Texte seien schlampig, er müsse sie manchmal einfach nochmal lesen. Dann würde er merken, dass es hinten und Vorne klappert. Es hat ihn noch, aber es zieht ihn nicht mehr.

Am Morgen muss Mike bereits um fünf Uhr raus. Das ist mir zu früh. Ich frühstücke mit den Jungs. Noch ein Zeichen, dass ich alt werde, oder Angst davor habe, als richtig alt belächelt zu werden oder so was in der Art. Die Jungs tragen ihre Haare genauso wie ich, als ich in ihrem Alter war. Ein einfacher Haarschnitt mit Linksscheitel und das ganze mindestens ein halbes Jahr wachsen lassen. Die Haare hängen einem immer wieder wie eine Gardine ins Gesicht. Was wurde ich deswegen immer wieder angemacht. Aber wie erzählt man sowas? Ich halte den Mund dazu und meine Frage, wie man mit so einer Haarpracht in einer von der Haselnusshirnfraktion stark frequentierten Gegend zurechtkommt, muss unbeantwortet bleiben. Ich fuhr mit Johannes Richtung Bahnhof, grüblte noch, ob ich in der Stadt noch eine kurze Mugge mache. Aber das Wetter war immer noch schlecht und die Zeit wurde mir auch noch verknappt. Der einzige Automat zum Abholen meiner bestellten Fahrkarten war außer Betrieb. Ich musste die Karte am Schalter abholen, hatte aber nicht die Auftragsnummer. Seeliger Bahnservice. Aber schließlich dauerte es kaum zehn Minuten. Auf nach Leipzig.


06.06.2006 - Leipzig

  • Leipzig, die alte Heimat, der Ort meiner ersten richtigen Straßenmugge. Eigentlich ist das ja schon Verpflichtung, wieder auf der Straße zu spielen. Aber wird das Wetter mitmachen? Wenn ich meinen alten Schulfreund Thomas erreiche, wird es wohl eher auf eine Kneipenmugge hinauslaufen. Ich lass mich überraschen.

Tagebucheintrag: Leipzig

Kurz vor Leipzig riss endlich die Wolkendecke auf. Eine Straßenmugge im Ort meiner ersten solchen steht zu erwarten. Mit aufgesetzter Sonnebrille peilte ich hoffnungsfroh die Lage. An meinem Lieblingsplatz, Hainstraße zum Markt hin, ging es nicht. Der Baulärm vom Markt, man baut dort gerade den recht umstrittenen Bahntunnel unter der Leipziger Innenstadt, war zu stark. Da ich nach einem anderen Platz zu suchen anfing, bemerkte ich gerade noch rechtzeitig eine aufziehende Gewitterfront. Ich rief also meinen alten Schulfreund Thomas an, ob er am Abend Zeit habe. Er hatte. Also schnappte ich mir erstmal ein Taxi und fuhr zu Mütterchen raus nach Kleinzschocher. Etwas Essen, ein kleiner Schwatz und eine wohltuende Stunde Schlaf. Das baute auf. Ich rief noch einmal Thomas an, wir konkretisierten die Pläne für den Abend. Er schlug vor, ins Tonellis zu gehen. Ich kannte den Laden bereits. Es war der ehemalige Club der Intelligenz, den Namen fand ich schon immer irgendwie nett. Wir verabreden uns für um sieben bei ihm.

Thomas machte einen etwas geschafften Eindruck, aber Gnade war gestern. Ich hatte schließlich einen Plan. Wir schwatzten kurz über sein Leben, die Kinder, das aktuelle Verhältnis zu seiner Exfrau und natürlich zu seiner Freundin, Ulrike. Die beiden sind immer noch zusammen. Damit sind alle meine Prognosen geplatzt. Aber was soll's. Ich freu mich, wenn er glücklich ist. Ich erklärte ihm seine Rolle in der Sache. Er klärt mit der jeweiligen Kneipe die Mugge und ich mache sie dann. Wir gingen zuerst ins Tonellis. Es ist eine richtige Blueskneipe, mit Live-Musik und Open-Mic (Offenes Mikrofon - wer Lust hat, darf ran). Aber für diesen Dienstag war bereits ein Standardprogramm geplant, also Fehlanzeige. Telefonisch verabredeten wir uns mit Ulrike, die von außerhalb kam, am Burgplatz. Dort beschlossen wir, zunächst ins "Beyerhaus", eher eine große Studentenkneipe, zu gehen. Wie abgesprochen klärte Thomas die Sache am Tresen. Alles war klar, ich konnte loslegen. Im Raum vor mir saßen ungefähr 20 Leute, hinter uns im Billardraum spielten noch etwa 10 Leute. Ich fing an. Der Geräschpegel ging kurz zurück und schwoll gleich wieder auf normale Lautstärke an. Für einen Moment fühlte ich mich fehl am Platz. Ich dachte mir nur, es ist halt 'ne Kneipenmugge, und zog den Titel durch. Kaum war ich fertig, gab es einen durchaus herzlichen Applaus. Die nächsten Titel brachten alle den gleichen Effekt. Ich machte keine Ansagen, sondern ging danach an den Tischen rum, erzählte von Cathi und den anderen Unfallopfern, vom Verein und seinen Zielen. Und ich bat um Spenden. Es kamen immerhin 27 Euro zusammen, nicht schlecht für eine Studentenkneipe. Einer bot mir sogar eine CD-Produktion an. Das fand ich nett.

Die nächste Station war das Cafe Louis. Als wir reinkamen lief gerade ein Video mit Joe Cocker. Thomas sprach mit dem Wirt, alles war schnell geregelt. Im Cafe waren etwa 16 (!) Leute. Die Resonanz war gut. In den Gesprächen an den Tischen sammelte ich fast 17 Euro. An der Bar gab es noch ein längeres Gespräch mit einem Mann, der die ganze Geschichte des Unfalls und des Prozesses aus der Presse genau kannte. Wir stimmten überein, dass die Strafrechtspraxis, die betrunkenen Fahrer die Trunkenheit als strafmildernd anrechnet, ein Riesenmist ist. Ich informierte ihn aber auch über das Revisionsurteil des BGH, das in diesem Fall deutlich auf die Vorsätzlichkeit der Tat hingewiesen hatte. Ich denke, das ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Ulrike und Thomas schlugen noch vor, ins Hotel Seeblick zu gehen. Immerhin eine anerkannte Szenekneipe, in der sowas möglich sein musste. Aber der Kellner sperrte sich. Thomas wurde ungehalten und stellte ihm deutlich die Frage, wieso es nicht ginge. Die lakonische Antwort lautete: "Weil ich keinen Bock habe". Da ließ sich nichts machen. Aber ich war auch so schon zufrieden und wir ließen den Abend mit einem kleinen Gespräch über das Leben ausklingen.

Gegen um zwei Uhr in der Frühe kam ich wieder bei meiner Mutter an. Ich war zwar müde, zugleich aber auch aufgekratzt. An den Gesprächen des Abends hatten mir zum einen die Aufgeschlossenheit zum anderen aber auch die Rückfragen zum Verein, der Arbeit desselben aber vor allem zu den Verwandten und Freunden der Unfallopfer sehr gefallen. Ein paar Notizen ins Tagebuch und dann war die Müdigkeit groß genug. Morgens frühstücke ich mit Mütterchen. Wir werten den Abend aus. Sie erzählt mir plötzlich von einer Sendung im Fernsehen am Vorabend. Dort habe man gesagt, dass der Unfallverursacher nur für ein Jahr in den Knast soll. Ich verstehe plötzlich die Welt nicht mehr. Hat sich meine Mutter verhört? Haben ein paar Medienheinis eine Ente rausgehauen? Wenn es so wäre, wäre es einfach zu fassen. Meine Anrufversuche in Saßnitz scheitern an Anrufbeantwortern. Ich verspreche meiner Mutter und mir, es am Nachmittag noch einmal zu versuchen. Obwohl sie eigentlich nichts von meiner Singerei gehört hatte, spendet Mütterchen noch 10 Euro. Für mich wurde es Zeit, die nächste Etappe rief: Bad Salzungen.


07.06.2006 - Bad Salzungen

  • Es ist auch schon wieder Jahre her, dass ich Peter, meinen alten Kompaniechef aus Dermbacher Zeiten, und seine Frau zuletzt gesehen hatte. ob es eine Straßen- oder Kneipenmugge wird, wird sich vor Ort entscheiden.

Tagebucheintrag: Bad Salzungen

Ich fuhr gegen Mittag los, Richtung Eisenach. Fast vier Jahre, vom Oktober 1984 bis zum August 1988, war dies meine Stammstrecke auf dem Weg nach Dermbach. Der Zug von Leipzig verspätet sich in seiner Ankunft in Eisenach um 15 Minuten. Das geruhsame Umsteigen mit einer geplanten Bahnhofsbesichtigung wurde zum Kurzstreckensprint über die Baustelle, die der Eisenacher Bahnhof zur Zeit ist. Aber ich erreichte die Südthüringenbahn und kam pünktlich in Bad Salzungen. Ich sah mich im Stadtzentrum um. Das Wetter war richtig gut, aber es waren kaum Leute unterwegs. Ein paar saßen in Straßencafes. Aber das war es fast schon, keine gute Gelegenheit für eine Straßenmugge. Ich rief Peter an, wann er da sein könnte, und siehe, er hatte früher Feierabend und war schon auf dem Weg nach Salzungen. Ich nutzte die Gelegheit, um meine Reisekostenbelege, die ich mit ins Gepäck gestopft hatte, an meine Firma zu schicken. Dann rief ich Karo, Cathis Freundin, und Kerstin, Cathis Mutter an. Sie beruhigten mich. Der Skandal ist bereits das eine Jahr, in dem der Typ noch nicht hinter schwedischen Gardinen sitzt. Aber ansonsten wird er seine Strafe in voller Höhe abzusitzen haben. Ich wurde wieder ruhiger. Gegen Ende des Telefonats kam Peter, mein alter Kompaniechef aus der Dermbacher Zeit, auf dem Parkplatz, auf dem ich wartete, an. Ich war sein Stellvertreter für politische Arbeit und werde sowohl von ihm als auch von seiner Frau noch heute immer mal wieder mit "Polit" angesprochen (Das geht von mir aus in Ordnung). Wir hatten uns zuletzt bei seinem 50. Geburtstag vor fünf Jahren gesehen.

Pit, wie ihn die Soldaten nannten, hatte schon immer ein großes Talent, Leute zu überzeugen. Es hatte mich nicht verwundert, dass er nach der Wende zunächst Vertreter für Versicherungen wurde. Als das nicht mehr so lief, wechselte er das Produkt. Um es im schönen alten Deutsch zu sagen: Er macht jetzt in Weinen. Wir zwei Dicken kauften etwas Kuchen und fuhren zu ihm. Es gab Kaffee, ein ganz klarer Verstoß gegen meine Kamillenteediät, und vor allem ein herzliches Wiedersehen mit seiner Frau, die aber kurz darauf wieder zur Arbeit musste. Ich bat Peter, für mich ein paar Kneipen klarzumachen. Er schlug vor, dass wir erstmal zu den Lokalen fahren und nach dem Abendessen loslegen sollten. Die erste Station war ein Country Saloon. Der Wirt war einverstanden. Ich begann schnell, ein kleines Countryprogramm zusammenzustellen. Beim nächsten Wirt erfuhren wir, dass er wohl nichtmal bis 21 Uhr aufhaben würde. Es käme ja doch keiner. Peter schlug noch eine dritte Gaststätte vor. Sie habe gerade erst eröffnet, da könnten die Chancen gut stehen. Die Wirtsleute sind einverstanden, sagen aber auch, dass sie nicht wissen, ob es voll oder leer wird. Wir sagten, wir kämen einfach und entschieden dann.

Nach dem Abendessen ging es runter zum Country Saloon. Ich fand dort das aufmerksamste Publikum während der ganzen Tour, vom Konzert in Saßnitz mal abgesehen. Ich spielte vor knapp 20 Leuten (vielleicht waren es sogar wieder 16) etwa eine halbe Stunde. In einigen Ansagen ließ ich anklingen, worum es mir bei der Tour ging. In den Gesprächen an den Tischen fand ich sehr viel Aufgeschlossenheit und Mitgefühl und auch Interesse an der Arbeit des Vereins. Ich sammelte 42 Euro an Spenden und spielte noch zwei Titel als Zugabe. Falls mir Peter einen Link zu dieser Kneipe schickt, würde ich diesen hier gern veröffentlichen.

Danach fuhr mich Peter zur "Neueröffnung". Am Tresen saß ein Gast, nehmen wir mal an, es war einer. Die Wirtsleute und wir tauschten gegenseitig das Bedauern darüber aus.

Wieder zurück schwelgten wir noch ein wenig in alten Zeiten, bis Peter auf die Idee kam, mit mir einen Einbürgerungstest zu machen. Beim Quiz und Kreuzworträtseln war er immer nahezu unschlagbar gewesen. Ich glaube, ich habe den Test mit Ach-und-Krach bestanden. Zumindest einigten wir uns darauf. Das Gespräch drehte sich noch ein wenig um unser jetziges Leben, die Sorge um die Gesundheit der Eltern, den Stolz auf die beiden Töchter. Ich verblieb in dem Gefühl, dass es da zwei nicht leicht haben, aber auch nicht untergehen werden. Aber eine Seite lernte ich noch an Peter kennen. Er wurde von einem Untermieter, dem Zwergkaninchen seiner jüngeren Tochter immer wieder belästigt. Die Schlussfolgerung war, dieses Kaninchen (ein Männchen, also ein Rammler) sei aufgrund seiner Einsamkeit sexuell unausgeglichen. Also wurde beschlossen, dem Tier die Quelle des Übels zu entfernen. Frisch kastriert saß der arme Kerl nun apathisch herum. Zum Abend hin taute er langsam wieder auf und fing auch wieder an, Peter zu belästigen. Die Frage also lautet: Was hat Peter an sich, das selbst ein kastriertes Kaninchen noch scharf macht? Die Antwort muss natürlich lauten: Nichts! Aber alleene bei där Fraache gönnd'sch mich schon wegschmeiß'n!

Am Morgen frühstückte ich mit Peter, seine Frau war schon wieder auf Arbeit. Er fuhr mich dann auch noch nach Eisenach (Danke!). Unterwegs lernte ich gleich noch einiges übers Weingeschäft. Wir verabschiedeten uns am Bahnhof und frohen Mutes ging es nach Bad Homburg.


08.06.2006 - Bad Homburg

  • Bei Grit in Bad Homburg gibt es einen 30. Geburtstag nachzufeiern. Ich hatte zwar zuletzt schon Gelegenheit, sie auf meinen Dienstreisen zu besuchen und wir trafen uns vor kurzem erst beim 60. Geburtstag ihrer Mutter, meiner Stiefschwester, Aber ich komme gern mit ihr zusammen. In Bad Homburg wird es mit ziemlicher Sicherheit auf eine Straßenmugge hinauslaufen.

Tagebucheintrag: Bad Homburg

Vor Bad Homburg kommt zunächst Frankfurt, und zwar das am Main. Grit, meine Nichte, hatte wenige Tage zuvor einen runden Geburtstag geradeso überstanden. Ich hatte vor, in Frankfurt noch ein Geschenk für sie zu kaufen. Ich hastete in der Wärme des frühen Nachmittags die Kaiserstraße hinunter und erstand in einem größeren Warenhaus ein Schreibset als Geschenk nebst Verpackung. Auf dem Rückweg zum Bahnhof peilte ich die Lage für eine Straßenmugge. Da waren bereits einige Straßenmusiker am Werke. Außerdem standen da eine ganze Menge Bettler herum. Ich beschloss, denen die Kundschaft nicht wegzunehmen und fuhr ein halbes Brathähnchen (ich tu's: Broiler) später nach Bad Homburg. Dort ging es auf die Louisenstraße, die Flaniermeile von Bad Homburg. Das schöne Wetter hatte eine ganze Menge Leute dorthin gezogen und mit Grit hatte ich noch keine konktrete Zeit für unser Treffen ausmachen können. Also lief ich die Straße hinunter, nach einer günstigen Stelle für meine Mugge Ausschau haltend. Ich fand sie ... und bekam Lampenfieber. Aber ganz böse. Ich kenne ja den Effekt. Man muss sich einfach nur hinstellen und anfangen und schon ist es weg. Aber wie anfangen, wenn's doch so schlimm ist. Ich rief Jana an. Ich schilderte ihr den schlimmen Fall und bat sie um Motivation. Hier ist ihre Antwort: "Also, Bärchen! Du gehst jetzt in das nächste Straßencafe, trinkst dort einen Kamillentee, isst dazu ein Stück Kuchen, trinkst dann noch ein Mineralwasser und wenn du bezahlt und dir die Kuchenkrümel vom Mund gewischt hast, gehst du an die Ecke zurück und fängst an!" Und fast so tat ich es, nur statt Kuchen nahm ich eine Kugel Eis.

Mit frisch abgewischtem Mund ging es an die Ecke und los. Sofort mit dem ersten Titel verzog sich das Lampenfieber. Während der ersten Titel tat sich noch nichts. Nach etwa fünf Titeln kam ein Mann aus einer kleinen Gruppe, die bereits die ganze Zeit neben mir gestanden hatte. Er warf mir ein Zwei-Euro-Stück in den Koffer und raunte mir zu: "Der Gundermann vorhin war Spitze!" Ich hatte von Gundi als dritten Titel "Schlaf kleine Frau" gesungen. Ab da war der Bann gebrochen. Eine Straßenmugge kann man sich so vorstellen, manche Leute kommen mehrmals vorbei, von denen werfen einige nach dem dritten oder vierten Mal etwas rein. Manche bleiben auf der anderen Seite stehn, du merkst kaum, dass sie zuhören, aber plötzlich kommen sie und werfen etwas rein. Am dichtesten kommen Kinder und Mütter mit Kindern. Sie werfen eher kleine Münzen ein, fragen dich während des Singens irgend etwas und wollen irgendwann anfangen, das Geld im Koffer zu zählen. Wenige kommen vorbei und schauen dich offen oder gar freundlich an. Die meisten gucken grimmigverbissen an dir vorbei. Aber da war ja noch mein Schild, für wen und warum ich das mache. Wer trotz seiner Verbissenheit noch Platz im Augenwinkel hatte und es warnahm, reagierte auch darauf, nur ganz wenige zeigten keine Reaktion. Die meisten zeigten Erstaunen, einige Verstehen, einige zeigten Betroffenheit und einige wenige blieben plötzlich stehen, hörten gar ein paar Augenblicke zu und warfen dann auch Geld in den Koffer. Es hat schon etwas rührendes, wenn eine ältere Frau ihren Mann auffordert, etwas Kleingeld herauszuholen, und wie sie dann mit Argusaugen und klaren Imperativen den Prozess der Auswahl der richtigen Münze überwacht. Eine Mutter mit mehreren Kindern und englischem Akzent blieb vor mir stehen, besser gesagt, ihre Kinder blieben es und da blieb ihr nichts weiter übrig. Wir kamen kurz ins Gespräch. Sie zeigte sich sehr betroffen vom Schicksal der vier und schimpfte auch gleich auf die laxen Bestrafungen in Deutschland. In England würden auch kleinere Vergehen viel härter bestraft.

Nach einer Stunde bat mein Hals um Schonung. Ich sang noch ein viertel Stündchen weiter, hoffend auf Grit. Dann war aber Schluss für den Hals. Ich wartete noch kurz und schon kam Grit angeradelt. Sie bedauerte es, mich nicht mehr gehört zu haben. Wir gingen zum Freisitz eines Cafes, ich überreichte ihr mein Geschenk und schon waren wir im Gespräch bei den Problemen des Altwerdens ab Dreißig. Es ist hier nicht der Platz, sich über die Probleme einer jungen, schönen Frau zu amüsieren. Aber ich tat es vor Ort. Sie ließ zur Bestätigung all ihrer Theorien gleich auch noch mein Geschenk liegen, bekam es allerdings später wieder. Der Abend endete in einer wunderbaren Tapas-Bar.


09.06.2006 - Schwerin

  • 22 Jahre habe ich Burkhard, von uns damals "Bulli" genannt, nicht mehr gesehen. Die fünf Minuten auf dem Bahnhof Berlin Zoo, wo wir uns zufällig über den Weg gelaufen waren, ich glaube das war im Jahre 1998, zählen nicht so richtig. Immerhin konnten wir die Telefonnummern austauschen und nun wird aus dem jahrelangen "man könnte sich mal treffen", ein "Wir treffen uns in Schwerin". Ich freue mich auf die Begegnung mit ihm, bin neugierig, was aus ihm geworden ist und wie ich auf ihn wirke. Ich denke, in Schwerin wird sich eine Straßenmugge anbieten, denn an diesem Tag startet die Fußballweltmeisterschaft mit dem Spiel Deutschland - Costa Rica. Da haben wir in Kneipen eh keine Chance.

Tagebucheintrag: Schwerin

Von Bad Homburg ging es in der Frühe nach Schwerin. Gott, was war das für eine besch... Fahrt. Bei 20 Minuten Verspätung in Hamburg, konnte ich dem geplanten Anschluss-IC nur hinterherwinken. Also ging es zur Regionalbahn, die eine Stunde nach dem IC in Schwerin ankommen sollte. Und die war voll. Etwa zur Ankunftszeit kam eine Durchsage mit Schwerin. Ich kämpfte mich zur Tür und nach draußen. Dort sah ich erst nach dem Aussteigen und vor allem erst nach dem Abfahrtssignal das Schild "Schwerin Süd", und Burkhard erwartete mich am Hauptbahnhof! Zum Glück kam gleich eine zweite Regionalbahn hinterher. Und wiederum glücklicherweise ist Burkhard selbst auf einem vollen Bahnhof kaum zu übersehen.

Wenn man die 5 Minuten auf dem Bahnhof Zoo in Berlin im Jahr 1998 mal unberücksichtigt lässt, hatte ich Burkhard seit 22 Jahren nicht mehr gesehen. Wir ließen uns allerdings wenig Zeit zu langen Begrüßungen. Bis zum Eröffnungsspiel der Fußballweltmeisterschaft war dank der Bahn nicht mehr viel Zeit. Wenn mir noch jemand zuhören sollte, musste ich loslegen. Ich checkte schnell in einem Hotel am Bahnhof ein und dann ging es mit Burkhard in eine Fußgängerpassage. Beim fünften Titel warf der erste Passant eine Münze in den Gitarrenkoffer. Viele, die das Schild lasen, verharrten kurz, versuchten sich zu erinnern. Plötzlich stand ein junger Mann vor mir, zeigte eine Euromünze, warf sie in den Gitarrenkoffer und sprach: "Alter, du singst richtig gut. Aber sing doch mal Deutsch. Hier springen so viele Kanaken rum. Sing doch mal deutsch!" Ich kam dieser "Bitte" nach. Kaum hatte ich angefangen, kam er er zurück. Er stand vor mir, hob den Zeigefinger, wollte etwas sagen, hörte das Lachen in seinem Rücken, winkte ab und trottete resignierend von dannen. Ich hatte von Keimzeit "KlingKlang" genommen, wo es in der ersten Zeile heißt: "Steck dir die halbe Tüte Erdnuss-Chips in deinen zuckersüßen Mund."

Nach etwa einer Stunde und zehn Minuten machte ich Schluss. Es waren mehr als 19 Euro zusammengekommen. Das ist ein gutes Resultat für eine Stunde Straßenmusik. Ich ging mit zu Burkhard, wir wollten uns das Eröffnungsspiel der WM2006 ansehen. Dabei lernte ich auch seine Frau und seinen Sohn kennen. Gelegenheit, in Ruhe miteinander zu reden, hatten wir dann bei einem Abendbrot in der Stadt. Ich konnte mich vorher davon überzeugen, wieviel in Schwerin für die Altbausubstanz getan wurde. Den Häusern dort geht es gut. Während des Essens verlor Polen gegen Ecuador. Ich sprach wie vor 22 Jahren mit einem Menschen, dessen schnodderige, aber ungeheuer intelligente Art im krassen Gegensatz zu seinen Selbstzweifeln steht. Ich sagte ihm, dass er sich nicht verändert habe. Er wertete es als Bestätigung, er stagniere. Ich aber meinte die Ehrlichkeit, die Offenheit, die Geradheit in seinem Wesen. Dies sei hier nochmal klargestellt.


10.06.2006 - Sassnitz

  • INFO DES VERANSTALTERS:
    "Die Veranstaltung soll dem Gedanken Rechnung tragen, dass Alkohol, Drogen und übersteigerte Geltungssucht mit dem Führen von Fahrzeugen nicht so richtig zusammenpassen. Bands der Insel Rügen und andere Gäste stellen sich diesem Gedanken und rufen zum überlegten Handeln auf. Mit der Veranstaltung, die unmittelbar ein Jahr nach dem tragischen Unfall bei Ralswiek stattfindet, soll aller Unfallopfer indirekt gedacht werden. Die Rockveranstaltung trägt nicht den Charakter einer Trauerveranstaltung. Die Veranstaltung nutzt den Präventivgedanken, um in Erinnerung zu rufen, dass die Kette „Raser – Täter – Opfer“ keine zeitliche Begrenzung erfährt, sondern im Leben der unmittelbar und mittelbar Betroffenen, unbedingt eine Langzeitwirkungen mit Folgen hat."

Tagebucheintrag: Sassnitz

Ein Katzensprung von Schwerin nach Sassnitz. So dachte ich zumindest. Nein, es hieß wieder: Früh aufstehen! Und es zuckelte sich so dahin bis auf die Insel. Was wird mich erwarten? Vier Bands sollen spielen und dann ich. Wie immer werde ich bei Kerstin herzlich empfangen. Aber die Zeit ist knapp. Kurz nach dem Mittag beginnt bereits der Soundcheck. Ich bin ein wenig erschrocken, als die harten Metal-Sounds der Bands höre. Alter Schwede - und danach soll ich mit meinem Zeug auf die Bühne? Der Hals zumindest hat sich wieder etwas erholt. Über der Bühne hängt ein großes schwarzes Transparent mit den Fotos der Vier. Ich schaue eine Weile hin und spüre, dass es mir Kraft gibt. Das Lampenfieber wird mich wieder packen, aber heute werde ich leichter damit fertig.

Die Bands legen los. Distant fame aus Stralsund mit einer tollen jungen Sängerin - Julia. Seaside aus Zingst, noch etwas schüchtern. Red Lake aus Sassnitz mit sehr viel Druck und Red Moon aus Stralsund mit dem Sänger Jay, einem Typen wo man nicht weiß, wo der Umfang und die Modulationsfähigkeit der Stimme anfangen und wo sie aufhören. Das Repertoire der Bands lag durchweg im härteren "Metall"-Bereich. Einige Fans der Bands waren auch mitgekommen. Eine ganze Reihe der Gäste war aber des Anlasses wegen gekommen. Denen war die Musik freilich zu laut. Als ich dann als Letzter mit meinen leisen Sachen auf die Bühne kam, hatte ich nahezu ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich gestehe, dass ich mir ein wenig wie der Schlagersänger im Blueskonzert vorkam. Die Mädels und Jungs der Bands hatte überwiegend tolle Leistungen abgeliefert, waren aber beim Publikum nicht so gelandet, wie ich mit meinem eher eingängigen Zeugs. Wie dem auch sei, ich hatte keine Zeit zum Grübeln darüber. Ich spielte eine halbe Stunde lang, erzählte in meinen Zwischentexten von der Tour, von meinen Eindrücken und übergab die eingesammelten Spenden (271 EUR). Als ich um eine Zugabe gebeten wurde, fragte ich Kerstin nach einem Wunsch. Sie wünschte sich "Sound of silence" ...

Presseinformation zu dieser Veranstaltung:

Am vergangenen Sonnabend fand im E-Werk Sassnitz ein außergewöhnliches Konzert statt. In gemeinsamer Aktion zwischen der regionalen Rocktour "Power of Words", dem Team des E-Werkes Sassnitz und der Bürgerstiftung „Raser – Täter – Opfer“ der Insel Rügen, wurde aller Unfallopfer gedacht, die in den letzten Jahren auf unseren Straßen ihr Leben ließen. Anlass hierzu war der erste Jahrestag des schrecklichen Unfalls in der Nähe von Ralswiek, bei dem vier junge Sassnitzer tödlich verunglückten. Nach einigen einleitenden Worten zur Veranstaltung durch Frau Kolbe, Mitglied der Bürgerstiftung, und dem Projektleiter von "Power of Words" Herrn Michael Just, in dem an die jährlich tausenden jungen verkehrsopfer unseres Landes erinnert wurde, gab es grünes Licht für die Veranstaltung. Wer den Weg in den Konzertsaal fand, musste vorbei an mahnende Spruchbänder, eine erschütternde Fotoserie und dem Infostand der Stiftung „Raser – Täter – Opfer“. Die Bühne, in schmucklosem Schwarz gehalten, wurde lediglich durch ein Banner mit den Portraits der vier jungen Sassnitzer Unfallopfer drapiert. Insgesamt spielten an diesem Abend vier Bands aus der Region Vorpommern. Musikalischer Gast war zudem der Berliner Gitarrist und Sänger Klaus-Peter Renneberg. Ihren Einstand ausserhalb ihres Heimatortes gaben die drei Zingster Musiker von der Band „Seaside“. Eigene Songs ganz im Stil der Kultband „Nirvana“ ließen aufhorchen und fanden viel Beifall. Die Stralsunder Band „distant f.a.m.e.“ wusste durch die prägnante Gesangsstimme von Julia Schwarzkopf und einem recht ausgefeiltem Arrangement zu gefallen. Laut, brachial und groovig brachte sich „Red Moon“ in die Veranstaltung ein. Mit einem fast einstündigen Konzert ließ die Stralsunder Nu-Metalband keine Nuance dieses Genres aus. Vom rhythmisch betonten Song, wie „Hatred“, bis zur sentimentalen Ballade „Cry“ war auch hier alles vertreten. Bei letzterem Song erinnerte auch Sänger Jay daran, dass es Sinn macht, sich gegen den rasenden Wahn auf den Straßen unseres Landes zu stellen. Er wünschte der Bürgerinitiative viel Erfolg. „RedLake“ aus Sassnitz, eine relativ junge Band, brachte seine Fans gleich selbst mit. Eigene Songs, die zwischen HardRock und Metal tendieren, bestimmten das halbstündige Programm. Den Schlusspunkt setzte der Berliner Sänger Klaus–Peter Renneberg. Gitarre und Stimme, Texte die zum hören zwingen, Worte die das Verstehen erleichtern, Renneberg wusste vom ersten Moment an zu fesseln. Kleine Begebenheiten vom Randgeschehen des Alltags, einige Worte an das recht gemischt vertretene Publikum. Der Funke der Begeisterung sprang sehr schnell über. Renneberg übergab der Bürgerstiftung 270 Euro, die er während einer kleinen Tournee als Straßenmusikant, eigens für diese Initiative gesammelt hatte. Das Publikum ließ den Sänger erst nach einer Zugabe, „Sound of Silence“ anrührend und zwingend vorgetragen, von der Bühne. Mitorganisator Jürgen Blümel von "Power of Words" dankte abschließend allen Beteiligten vor und auf der Bühne für ihr Engagement, mit der eindringlichen Erinnerung, nicht nur das eigene Leben, sondern auch das des Mitmenschen zu achten. „Nur einmal haben wir die Chance es zu leben“, betonte er. Der Erlös aus den Eintrittsgeldern ging an die Bürgerstiftung, die Musiker verzichteten zu Gunsten des Veranstaltungsgedanken auf ihre Gage.