Catharina F.


Prolog

Es ist Sonnabend, der 21. April 2001. Mein Telefon klingelt. "Renneberg!" - "Hallo, Onkel Reni bist du es?" - "... Ja?!" - "Hallo, hier ist Cathi." - "Cathi? Das ist ja 'ne Überraschung." - "Du, Onkel Reni, ich bin in Berlin. Ich müsste dich dringend sprechen. Kannst Du her kommen?" - "... Ja ... wenn du mir sagst, wo das ist ..." Sie nennt mir eine Adresse. Schnell wird ein Taxi gerufen. Auf der Fahrt verkommt das Denken zum Grübeln, zur Kaffeesatzleserei. Die Tür der Altbauwohnung wird von einem anderen Mädchen geöffnet. Sie führt mich in die Wohnung. Aus dem Wohnzimmer kommt mir eine zierliche, fast zerbrechlich wirkende dunkelblonde Schönheit entgegen. Wir umarmen uns, gehen in die Küche. "Onkel Reni, es gibt eine ganz traurige Nachricht. Papa ist tot."


Prerow

Cathi ganz klein Sommer 1989. Mein Freund Mischka, wir studierten in dieser Zeit gemeinsam in Berlin, lud mich nach Prerow ein. Zelten auf dem Darß. Zelten auf dem FKK-Zeltplatz. Ein Zelt bräuchte ich nicht mitzubringen, die Familie wollte in ihrem zusammenrücken. Also packte ich meine Tasche, schulterte meine Gitarre und ab ging es nach Prerow. Mit der Freikörperkultur hatte ich bereits Erfahrungen, aber den ganzen Tag nackt umeinander zu sein, war mir neu. Ich traf auf eine sehr interessante und in einem durchaus positiven Sinne verschworene Gemeinschaft. Nein, das waren keine militanten Nudisten. Wenn da einer mit Hose herumlief, wusste man sowieso nicht, ob er sich verlaufen oder nur den Arsch verbrannt hatte, oder ob er spannen wollte. Diese Dinge nahm man sehr gelassen und locker. Kerstin, Mischkas Frau, kannte ich bereits, sie hatte ihn schon mehrfach in Berlin besucht. Nun lernte ich noch die Kinder kennen, Thomas damals 7 Jahre alt und Cathi damals 2 Jahre alt. Mit den Kindern hielt man es recht locker. Sie bildeten zumeist eine große Traube und spielten miteinander. Zuweilen tauchte diese Gruppe von 10 bis 20 Kindern aller Altersstufen für maximal eine Stunde an einem Zelt auf, ging dort den Leuten auf die Nerven, und zog danach weiter zum nächsten Zelt. Alles in allem bedeutete das viel Ruhe, von den relativ kurzen Stressattacken mal abgesehen. Mischkas Zelt war nun interessant geworden, weil da ein Onkel mit Gitarre aufgetaucht war. Innerhalb kürzester Zeit wurde Thomas mein "Public Relations Manager". Er dirigierte am Abend die Gruppe zu unserem Zelt, Gitarrenstunde mit einem fantastischen Publikum. Nach meinem Spitznamen in der Band wurde ich dort Onkel Reni gerufen. Die in diesem Rufnamen steckende Geschlechterverwirrung kam für die Kinder oftmals erst zutage, wenn sie sich später mit anderen Erwachsenen über ihren Urlaub unterhielten.

Etwa alle zwei Tage gab es ein Ereignis, das mich Cathi näher brachte. Vom Beobachtungsturm der Rettungsschwimmer schnarrte dann eine Stimme: "Hier ist ein kleines blondes Mädchen mit Namen Catharina. Die Eltern möchten sie bitte abholen." Kerstin wurde das mit der Zeit immer peinlicher. "Onkel Reni, geh du mal" wurde dort zum geflügelten Wort. Cathi empfand die Sache als lustiges Spiel und war immer quietschvergnügt, wenn man sie abholte. Die Rettungsschwimmer kannten das Spiel inzwischen auch und spielten einfach mit, teils belustigt, teils resignierend. Cathi ging ihre eigenen Wege, sie folgte ihrer Neugier. Die Schelte bezog dafür ein anderer. Thomas hätte besser auf seine kleine Schwester aufpassen sollen. Es setzte öfter mal harte Worte. Ach Mischka, was du an Liebe, närrischer Verliebtheit, Affenliebe an Cathi verschwendetest, hast du bei Thomas oft mit Strenge ausgeglichen. Aber es war nicht schwer, sich in Cathi zu verlieben. Ich war in kürzester Zeit ihr Sklave, genoss aber auch ihren Respekt, schließlich war ich Onkel Reni mit der Gitarre. Wer hat sowas denn sonst schon aufzuweisen. Allerdings konnten die Nächte und das morgentliche Erwachen im Beisein zweier Kinder, zumal solcher Kinder wie Cathi und Thomas, durchaus Anstrengungen mit sich bringen. Cathi schlief an ihre Mutter gekuschelt mit dem Rücken zur Trennleinwand des zweigeteilten Schlafbereichs im Zelt. Auf der anderen Seite lag ich. Hin und wieder wurden meine Träume durch strampelnde und mich malträtierende Kinderfüßchen beendet. Oder wenn man nach einer durchzechten, durchtanzten Nacht des Morgens um sieben nichts anderes will als Schlaf, süßen, wohligen, erholsamen Schlaf, doch ein zugegeben noch kleines, leichtes aber immerhin auch hyperaktives Kind wirft sich auf Deinen Bauch, setzt sich rittlings darauf und brüllt: "Onkel Reni! Eisenbahn fahren!" ... Vielleicht kennt Ihr noch das Rattern der DDR-Züge, die ständigen Schienenstöße. Cathi hat diese wunderbar imitiert. Jeden einzelnen. Stundenlang.

Im Sommer 1990 fuhr ich noch einmal nach Prerow. Ich brachte ein Lied mit. Der Liedermacher Arno Schmidt hatte eine Platte herausgebracht. Den Titelsong "Aber fliegen" hatte ich mir ein paarmal angehört und ihn dann, wie immer bei mir mit leichten, eher der Faulheit zuzuschreibenden Modifikationen, in mein Repertoire aufgenommen. Ich sang ihn gleich am ersten Abend. Thomas fand eine Zeile besonders witzig:

"Ich hab gelernt, am besten liest man seine Zeitunng auf dem Klo.
Ich habe gelernt, am besten schmeckt das Bier am Tresen."

Da ich ihn als PR-Manager noch nicht gefeuert hatte, kam von ihm also an jedem Abend in der Gitarrenrunde: "Onkel Reni, sing doch mal das mit'm Klo." Das tat ich. Das Lied wurde mit der Zeit zu einem Hit im gesamten Freundeskreis von Cathi und Thomas.


Das Mädchen

Cathi als Kind Aus den Jahren bis zu Cathis Jugendweihe sind mir nur Erinnerungssplitter geblieben. Die Dampferfahrt auf der Spree gehört dazu. Natürlich musste Cathi wieder ganz allein das Schiff erkunden. Und ebenso natürlich war es, als die Durchsage kam: "Hier auf der Brücke ist ein kleines blondes Mädchen! Die Eltern möchten sich doch bitte mal drum kümmern!" Mischka freute sich und Kerstin schickte mich hoch. Oben auf dem Oberdeck kam mir Cathi über alle Maßen gutgelaunt entgegen und ließ sich von mir, umbrandet von altklugen Lebensweisheiten der Umsitzenden, auf und in den Arm nehmen.

Es ist da auch die Mugge mit der Band in Saßnitz. Am Tag nach unserem Auftritt wollten wir nur mal so für uns und unsere Freunde spielen. Rumms, schon waren wir in ein großes Armeezelt verfrachtet. Rumms, schon hatten wir irgend etwas um die 40 Zuhörer. Und erst recht Rumms, schon wurden wir von einigen Altbundesbürgern mit Videokamera verewigt. Das Video hat Cathi nicht nur in Ehren gehalten sondern auch oft angeschaut. Ob wohl noch etwas darauf zu erkennen ist?

Es gab dann noch einige Besuche auf der Insel, aber es blieb mir nicht viel mehr als die Erinnerung an ein Mädchen zu dem man allenfalls sagte: Bist du aber schon groß geworden. Bei meinem letzten Besuch bei der ganzen Familie schlief ich in Cathis Zimmer. An der Wand hing ein Poster von TLC, die gerade mit ihrem Titel "Don't go chasing Waterfalls" die Charts aufräumten. Aber obwohl wir uns selten sahen, war immer wieder sofort eine große Vertrautheit zwischen uns, eine Freundschaft als hätte man sich gerade mal nur ein paar Tage nicht gesehen.

Es kam die Zeit, da sich Mischka und Kerstin trennten. Für mich ging in dieser Zeit der Kontakt zu den Kindern verloren, ich hörte nur immer von Mischka die neuesten Nachrichten. Um so mehr war ich erstaunt, als mich Cathi m 21. April 2001 anrief und sprechen wollte.


Die Jugendweihe

Cathi lockig Wir sitzen in einer Berliner Wohnung in der Küche. Cathi hat ihren Kopf an meine Schulter gelehnt. Ich lasse sie weinen. Ich verspüre in solchen Momenten, da mir der Tod nahestehender Menschen verkündet wird, nur Leere. Meine Tränen kommen erst, wenn ich versuche, es einem anderen mitzuteilen. Cathi fasst sich wieder, richtet sich auf. "Weißt du, Onkel Reni, ich habe nächstes Wochenende Jugendweihe. Papa hat da schon alles vorbereitet." Ich verspreche ihr, zu kommen. Erst viel später erfuhr ich, wie Cathi an diesem Tag vom Tod ihres Vaters Kenntnis erhielt. Sie hatte ihn auf seinem Handy angerufen. Eine fremde Männerstimme meldete sich. Auf Cathis Frage, ob sie Herrn F. sprechen könne, kommt eine Antwort: "Nein, das geht nicht. Wir sind gerade in der Wohnung des verstorbenen Herrn F." Danach hat sie mich angerufen.

Ich fuhr am Wochenende darauf nach Saßnitz. Auf der einen Seite herrschte eine sehr gedrückte Stimmung. Kerstin und Mischka hatten sich zwar getrennt, waren aber durch die Kinder in ständiger Verbindung geblieben. Es war kein Hass, keine Feindschaft zwischen ihnen gewesen. Es ging einfach nicht mehr miteinander. Und somit war da die Trauer um einen lieben, vertrauten Menschen. Auf der anderen Seite wurde die Jugendweihe geschäftig vorbereitet. Cathis langes, dunkelblondes Haar sollte über Nacht in Löckchen gepresst werden. Wie viele schöne Frauen hatte auch Cathi eine mir unverständliche Abneigung gegen das Fotografiertwerden. Mir gelingen ein paar Schnappschüsse. Cathi im Nachthemdchen mit Softlockenwicklern im Haar. Die sind aber nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Mutter und Tochter ziehen sich einigermaßen rechtzeitig zurück, dem Schönheitsschlaf zu frönen. Ich sitze mit Thomas noch bis weit in den Morgen. Es bleiben mir eineinhalb Stunden Schlaf.

Die Zeremonie bot das übliche Bild von improvisierter, linkischer Festlichkeit, die nur durch die Anteilnahme aller Beteiligten nicht als peinlich empfunden wird. Danach ging es zu Kerstins Bruder ins Restaurant in Stralsund. Mischkas Tod war natürlich immer noch beherrschendes Thema, mit allen wüsten Spekulationen. Allerdings gelang es, das Thema von Cathi fernzuhalten. Irgendwann wollte ich singen, wurde aber gebeten, da noch andere Gäste im Lokal waren, zu warten. Als ich dann doch anfing, zeigte man sich durchaus wohlwollend und mancher blieb sogar noch etwas länger. Cathi freute sich, sang selbst auch, wenn ich mich nicht irre von Karat "Über sieben Brücken". Als letzten Titel, bevor ich eine Pause einlegen wollte, sang ich, der guten alten Prerowzeiten gedenkend, das gute alte "Aber fliegen ...". In der Pause kamen zwei Jugendliche auf mich zu, ich glaube es waren Anne und Andre - Cousine und Cousin von Cathi, und fragten mich: "Sag mal, du warst das damals in Prerow?" Mir ging ein Schauer über den Rücken. Nach elf Jahren war man immer noch in der Erinnerung dieser Jugendlichen, die mich in Prerow als sieben- bis zehnjährige Kinder erlebt hatten.

Bis zum Ende hielt sich eine recht gelöste Stimmung. Dann bat mich Thomas, von Simon & Garfunkel den Titel "Sound of silence" zu singen. Während ich ihn sang, brach Cathi plötzlich in Tränen aus. Es war der gemeinsame Lieblingstitel von ihr und ihrem Vater. Die Stimmung kippte, auch bei mir. Es sollten mehr als drei Jahre vergehen, bis ich diesen Titel wieder sang.

Wir verbrachten die Nacht bei einer Freundin von Kerstin in Stralsund. Irgendwann wurde Cathi sehr müde, schlief auf dem Sofa bereits ein und ich nahm eines der schönsten Onkelrechte in Anspruch. Ich lud sie mir auf die Arme und trug sie ins Bett, wissend, das es wohl das letzte Mal sei, dass sie mir so etwas gestatten würde.


Der 18. Geburtstag

Cathi schmollend Es sollte eigentlich eine Überraschung werden, aber Thomas verplapperte sich. Ich kam zu Cathis 18. Geburtstag, natürlich mit Gitarre. Am Donnerstag, dem 02. September, hatte Cathi Geburtstag gehabt, am Freitag reiste ich an. Trubel. Die Bude war voll. Ich lernte in 5 Sekunden 20 neue Leute kennen und war 3 Minuten später war über die grundlegenden Beziehungen informiert. Ja, so ging es zu bei Cathi und Kerstin in Saßnitz. Eine Freundin von Cathi kam im Flur auf mich zu, bekleidet mit einem Bikini-Oberteil und einem Minirock. Ob das so gehe, werde ich gefragt. Ich druckse herum und fordere mich innerlich auf, ihr ins Gesicht zu sehen. Sie wolle so zu einer Diskothek. Diese Auskunft vergrößerte meine Ratlosigkeit um einiges. Wir einigten uns, der Rock passe nicht so gut zum Oberteilchen. Sie sucht einen anderen. Ich erfahre inzwischen, dass die Mädchen in eine Diskothek namens "Mah k'ina" nach Bergen wollen, zu einer sogenannten 40-Grad Party. Da werde man wohl auch mal ins Wasser geworfen, daher die Verbindung aus Verlockung und Bademode. Cathi geht auch hin, allerdings etwas dezenter gekleidet. So verbrachten wir den Abend in etwas kleiner Runde, saßen aber noch zusammen, als die Mädchen nächtens wieder zurückkehrten.

Am nächsten Morgen hatte ich Gelegenheit, Cathis beste Freundin Karo kennenzulernen. Sie kannte mich bereits seit Jahren aus den Erzählungen von Cathi. Doch viel Zeit blieb uns nicht. Die Party musste vorbereitet werden. Am Abend trafen sich etwa 60 Leute. Ich sah einige bekannte, sogar vertraute Gesichter wieder, aber bei der Mehrzahl musste ich passen. Cathi hatte mir im Vorfeld erzählt, sie wolle eine Rede halten über Menschen, die ihr wichtig waren und sind. Und vor allem wollte sie mit ihrem Papa beginnen. Ich ging mit mir ins Gericht. Hätte ich einfach so über Mischka sprechen können? Schreiben, das ja. Aber beim Reden würden bestimmt die Gefühle mit mir durchgehen. Ich wünschte ihr viel Glück bei ihrer Ansprache.

Der Abend beginnt mit dem allüblichen Begrüßen von Bekannten und Unbekannten. Man sortiert sich zueinander oder voneinander. Man tuschelt über den oder die oder über alle. Und dann geht Cathi nach vorn. Sie hat einen Zettel in der Hand, schaut darauf, überlegt. Dann erklärt sie aber zunächst einmal, dass sie jetzt eine Rede halten will. Sie nimmt den Zettel wieder vor sich, lächelt kurz verlegen. Dann erklärt sie aber zunächst einmal, sie hofft, dass die Rede nicht zu lang wird, da sie doch so gerne lange redet. Ihr Lächeln kippt nun immer mehr zu einem Gekicher um , aus dem sie kaum noch herauskommt. Ich spüre ihre Angst, anfangen zu müssen. Sie nimmt den Zettel wieder hoch, konzentriert sich, kichert wieder verlegen, blickt noch einmal ins Publikum. Dann erklärt sie aber zunächst einmal, sie habe in dieser Rede die ihr wichtigsten Menschen aufgezält und hofft und bittet, dass niemand enttäuscht sein möge, wenn sie ihn nicht erwähne. Zwischendurch muss sie immer wieder kichern. Sie winkt ab, meint schon, sie wolle es wohl besser lassen. Wieder hebt sie den Zettel, lacht noch einmal kurz und verlegen. Es entsteht eine Pause. Ich möchte ihr helfen, rufe aufmunternd "Fang an!" Und das gerade in dem Moment als sie tatsächlich anfängt. "Ja, also ...", da realisiert sie meinen Zwischenruf, dreht sich noch einmal zu mir nach der Seite, lächelt mich an. "Ja, ich fang dann am besten mal mit Papa an. Immerhin ist das hier mein 18. Geburtstag und mir wär am liebsten, wenn er hier wäre ... ach, lassen wir das." Es geht nicht. Sie versucht verzweifelt die hochschießenden Tränen hinwegzukichern. Derweil wächst mir ein Kloß im Hals. Als sie nun wieder anfängt und ausgerechnet gleich mir dankt, dass ich gekommen bin, wird es auch für mich schwer. Während sie kurz zu erzählen versucht, welche Bewandnis es mit mir, ihrem Papa, dessen Tod und ihr hat, bricht sie endlich in Tränen aus. Karo, ihre Freundin reicht ihr schnell ein Taschentuch. Aber es befreit sie. Von da an kann sie ihre Rede bis zum Ende halten.

Ich hatte mir für diesen Abend vorgenommen, nicht stundenlang am Stück zu singen, wie ich das sonst so gern tue. Erfahrungsgemäß geht man auch den größten Liebhabern der Live-Musik irgendwann auf die Nerven. Somit hatte ich mir ein paar Blöcke von je 4 Titeln zurechtgelegt. Da konnte man schnell nach Lust und Laune der Zuhörer disponieren. Die Resonanz war schon während des ersten Blocks sehr positiv. Einige kannten mich ja schon seit ihrer Kindheit, einige waren von Cathi über mich ins Bild gesetzt worden, zum Teil noch mit dem uralten Video eines Hobbyfilmers von einer unserer Bandmuggen zu Pfingsten 1990. Die meisten aber hörten mich zum ersten Mal. Um so erstaunlicher war für mich die Begeisterung für mich alten, dicken Zausel, der ich mit einem Repertoire aufwartete, welches bestimmt eher selten in den Walk- und Discmans dieser Jugendlichen läuft. Um es kurz zu machen, es war einfach schön. Zwischendurch trat ein Freund von Toni, "Kochi", auf. Cathi ließ es sich auch nicht nehmen, mit Kochis Begleitung zu singen. Es war irgendwie rührend, wie sie mit Jenny händchenhaltend und konzentriert nach unten starrend sang. Ihre Freundin Karo und Steffi, die Tochter der besten Freundin der Mutter, versuchten sich mit meiner Hilfe an den "Sieben Brücken" und dann vereinigten sich die vier, um mit mir den "Zombie" der Cranberries aufleben zu lassen. Egal wie es klang, es hat einen Riesenspaß gemacht.

Cathis 18. Geburtstag So gegen halb drei sang ich einen letzten Block. Von mir war das gute, alte "Aber fliegen ..." bereits am Anfang zu hören gewesen, aber ich sang es auf vielfache Bitte noch einmal. Damit wollte ich eigentlich auch Schluss machen. Da stand plötzlich Cathi auf und kam zu mir. Thomas hatte mich mehrmals an diesem Abend gebeten "Sound of silence" zu singen. Mit Hinweis auf die Jugendweihe hatte ich jedesmal abgelehnt. Nun bat mich Cathi, das Lied zu singen. Da konnte ich nicht ablehnen. Nach fast dreieinhalb Jahren sollte ich es wieder spielen. Mischka stand mir vor Augen, aber ich hab es wohl ganz gut rüberbekommen. An diesem Abend wurde viel mit Video aufgenommen, auch dieser Titel. Ich möchte diese Sequenz aus der Videoperspektive schildern. Thomas hatte die Anwesenden um absolute Ruhe gebeten. Cathi saß auf einem Stuhl schräg hinter mir. Neben ihr saß Mara. Die beiden waren von der ersten bis zur vierten Klasse zusammen zur Schule gegangen und danach Freundinnen geblieben. Cathi hatte Mara geholfen, als deren Vater starb und Mara half Cathi, als sie ihren Vater verlor. Mara wusste um die Bedeutung dieses Liedes für Cathi. Die beiden kuschelten sich eng aneinander, ab und zu streichelte Mara Cathi sanft und beruhigend über den Arm. Ich stehe im Vordergrund und werde von der einzig brennenden Lampe im Raum schräg von hinten beleuchtet, erscheine auf dem Videobild eher als Silhouette. Im Bild erscheinen Mara und Cathi unter dem Griffbrett meiner Gitarre als einzig ausgeleuchtete Personen. Das Video hat Toni aufgenommen. Es sollte der letzte Titel sein, den ich für Cathi, Mara und Toni sang.



Epilog

Cathi Abschiedsbild Es ist Sonnabend, der 04. Juni 2005. Ich sitze in der U-Bahn Linie U2, fahre von Neu-Westend zum Alexanderplatz, um von dort aus mit der U5 weiter zum Frankfurter Tor zu kommen. Kurz vor dem Bahnhof Potsdamer Platz, die Bahn hat gerade die Hochbahnstrecke verlassen und ist in den Untergrund eingetaucht, klingelt mein Handy. "Renneberg!" - "Hallo ... Reni?" - "Hallo ... Wer ist da?" - "Hallo ... Onkel Reni, bist du das?" - "Ja! Hallo, wer ist denn da?" - "Hallo Reni, hier ist Thomas!" - "Thomas? Du? Mensch ich hab Deine Stimme überhaupt nicht erkannt. Ist ja schön, dass du dich mal meldest." - "Das klingt so komisch bei dir, wo bist du denn gerade?" - "Ich sitze in der U-Bahn, komme gerade von der Arbeit." - "Aha, ich bin gerade im Auto unterwegs. Wir fahren nach Saßnitz ... Du, Reni, ich muss dir leider eine traurige Nachricht übermitteln. Es geht um Cathi ... Catharina hatte heute morgen einen Unfall mit dem Auto ... Sie ist schwer verunglückt ... Naja, und ... Sie hat's nicht geschafft ... Sie ist gestorben." Der Rest des Telefonats entzieht sich meiner Erinnerung. Absolut gefühllos komme ich nach Hause. Dort blinkt mein Anrufbeantworter. Ich höre eine tränenerstickte Stimme: "Hi Reni! Hier ist Kerstin. Ich wollt' dir bloß 'ne traurige Mitteilung machen. Catharina ist heute morgen tödlich verunglückt. Ich wollte bloß, dass du auch Bescheid weißt. Warst ihr Lieblingsonkel. Ok - mach's erstmal gut." - Samstag, zwölf Uhr vierundvierzig.