Geschichte


Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit Geschichte. Es fing wohl alles in der fünften Klasse an, ich glaube es war zu meinem Geburtstag oder zu Weihnachten 1971, als mir ein zwar schlechtes Buch über die Götterwelt und die Helden der alten Griechen geschenkt wurde, aber es war ausreichend, mich zu interessieren. Griechische und römische Geschichte haben mich seitdem nicht mehr losgelassen.

1982 ging ich in meiner Heimatstadt Leipzig spazieren. Von der Elsterstraße bog ich in die Gottschedstraße ein entlang einer Wiese hinter meiner alten Schule (Lessingschule - 41. POS). Auf dieser Wiese hatten wir einst nach der Schule oder bei Ausfallstunden Fußball gespielt. Eines Tages kam eine alte Frau zu uns auf die Wiese und schimpfte unter Hinweis auf irgendeinen Gedenkstein, der am Rand der Wiese stand, wie wir hier Fußball spielen könnten, wo doch hier ein Toter ruhe. Wir ignorierten sie natürlich, aber die Episode blieb mir im Gedächtnis. An diesem Tag im Jahre 1982 erinnerte ich mich dieser Episode und beschloss, nun endlich mal zu schauen, was es mit dem Gedenkstein auf sich hätte. Der Stein vewies auf den 19. Oktober 19813, dem letzten Tag der Völkerschlacht bei Leipzig. Er war dem polnischen General und französischen Marschall Poniatowski gewidmet, der an dieser Stelle in der Elster ertrunken war. Wer soll denn das gewesen sein? Das war die Frage, die mich in den Bann der napoleonischen Kriege und der Geschichte Leipzigs zog.

1993 blätterte ich in einem Bildband über den Ersten Weltkrieg. Plötzlich entdeckte ich auf einer Seite ein Bild, das angeblich den kleinen Kreuzer "Breslau" zeigte, wie er von englischen Granaten getroffen wurde und unterging. So ein Quatsch, dachte ich. Opa war auf diesem Kreuzer gefahren und hatte den Untergang miterlebt. Er war zwar zehn Jahre vor meiner Geburt gestorben, aber ich kannte viele Erzählungen von meiner Großmutter. Danach war die "Breslau" auf mehrere Minen gelaufen. Ich beschloss, diese Sache mal zu recherchen. Zwölf Jahre später hatte ich genug Material zusammen und schrieb alles mal auf. Es war mir tatsächlich gelungen, aus verschiedenen, eher zufällig gefundenen Büchern und Interviews mit meinen Tanten und meiner Mutter, gelungen, einen Tag aus dem Leben meines Großvaters zu rekonstruieren. Der originale Operationsbefehl dieses Tages an die Schiffe und detailliertes Kartenmaterial sowie Gefechtsanalysen aus der englischen "Naval History" rundeten alles ab. Ich schrieb mehr schlecht als recht. Als ich es las, merkte ich, was mich am meisten bewegt und berührt hatte. Es war die Geschichte dieser einfachen Menschen, die meine unmittelbaren Vorfahren waren. Es waren keine Heldengeschichten. Aber ich begriff beim Schreiben plötzlich, was Familienstolz bedeutet. Ich stelle hier als Leseprobe den Epilog des Buches ein, der die Zeit nach dem Untergang der "Breslau" beschreibt. Das gesamte Buch steht als Download zur Verfügung. Alle Rechte liegen beim Autor.

 



 

"Der Untergang der Breslau" - Epilog


Südlich von Valetta, der Hauptstadt Maltas, liegt der Ort Vittoriosa, eine Halbinsel, die in das große Hafenbecken von Valetta hineinragt. Schaut man ohne eine Karte von oben auf diese Gegend, dann wirken Valetta und die umliegenden Ortschaften wie eine einzige große Stadt. Von Vittoriosa, in der Landessprache heißt der Ort Birgu, hat man einen imposanten Blick über den Hafen auf Valetta mit seinen alten Häusern, Kirchen und Forts. Geht man heute in Vittoriosa aus dem Ortskern in Richtung des Friedhofs der Parish-Kirche von St. Lorenzo, der mitten auf der Halbinsel liegt und als eine der Sehenswürdigkeiten dort gilt, dann muss man die Triq San Dwardu, die frühere St. Edwards Street, hinunter laufen. Linker Hand auf diesem Weg, kurz vor dem Friedhof, liegt ein altes verfallenes Fort – Fort Salvatore. Man sucht es vergeblich in den Tourismusführern, Stadtplänen und den Geschichtswerken Maltas. Dieses Fort steht im Schatten anderer, berühmterer Forts, wie zum Beispiel dem Fort St. Angelo, ebenfalls in Vittoriosa, welches während des ersten Weltkrieges ein Stützpunkt vom Hauptquartier des britischen Flottenoberkommandos war. Hatte dagegen Fort Salvatore nichts zu bieten? Es ist eines der typischen Forts auf Malta, erbaut 1724. Und es hat seine Geschichte, aber eine, die in der Geschichtsschreibung eher den Mantel des Schweigens ausbreitet. Es war ein Kriegsgefangenenlager der britischen Marine. Seit wann es diese Funktion hatte, ist mir nicht bekannt. Als frühestes Zeugnis lag mir eine Postkarte vor, die ein Besatzungsmitglied des kleinen Kreuzers EMDEN 1916 von dort nach Hause geschickt hatte. Die EMDEN war durch ihren Einsatz im indischen Kolonial-gebiet der Briten zu großer Berühmtheit gekommen. Jedoch am 9. November 1914 erwischte sie der englische Kreuzer SYDNEY bei den Cocos-Inseln. Die überlebenden der Besatzung gingen in die Gefangenschaft. Ich vermute, dass sie 1914 bereits nach Malta gebracht wurden. Nach dem 20. Januar 1918 erhielt die Schar der Gefangenen im Fort Salvatore Verstärkung. Einer der neuen "Prisoner Of War" war der deutsche Obermatrose und nun englische "POW" Paul Renneberg.

Könnte man nur von herrlichem Klima und einem schönen Ausblick leben, wäre die Unterbringung im Fort Salvatore eine beneidenswerte Sache. Aber es war Kriegsgefangenschaft. Die Beschränkungen, das nicht allzu gute Essen und die Zensurvorschriften dürften Klima und Ausblick recht eindeutig Paroli geboten haben. Zugleich erreichte meinen Großvater dort die Nachricht, dass sein Vater am 18. Januar 1918, zwei Tage vor dem Untergang der BRESLAU, gestorben war. Die Bilder von ihm aus dieser Zeit auf Malta zeigen einen sehr schlanken und fast immer etwas finster dreinblickenden jungen Mann (siehe Titelbild vom 25. November 1918). Ich gucke übrigens auch so in die Welt, wenn ich nachdenklich bin, dass selbst mir sehr nahestehende Menschen oft nicht sicher sind, ob ich gerade grimmig, auf sie böse oder etwas anderes in der Art sein könnte. Nein, wir Rennebergs sehen so aus, wenn uns etwas im Kopf herumgeht. Was Opa da beschäftigte, weiß ich nicht. Dafür hörte ich aber von meiner Großmutter von zwei Freizeitangeboten: Fußball spielen oder Englisch lernen. Und was machte Paulchen mit seinen unbekümmerten vierundzwanzig Lenzen? Er spielte natürlich Fußball! Später, meinte Oma, hätte er sich dafür "in d'n Hindern beißn gönn'." Aber die Chance war vertan. Opa sollte keine "auswärdschen" Sprachen mehr lernen.

Die Gefangenschaft endet offiziell am 14. Dezember 1919 mit Pauls Eintreffen im Dulag, Durchgangslager, Lechfeld. Er bleibt dort aber nur kurze Zeit. Bereits am 17. Dezember 1919 wird er behelfsmäßig aus dem Heeresdienst entlassen. Sein Militärpass wird ihm am 22. Januar 1920 in Kiel ausgestellt und am 08. Mai 1920 werden ihm von der Versorgungsstelle II Leipzig die Kriegsgefangenschaft und die Entlassung aus dem Heeresdienst bestätigt. Diese Bestätigung weist handschriftlich in einem Stempelfeld die Adresse Leipzig-Kleinzschocher, Miltizer Straße 9 aus. Meine Mutter, die heute auch wieder in Kleinzschocher lebt, zeigte mir vor einigen Jahren dieses Haus, in dem sie einen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte.

Sucht man heute die Miltizer Straße, wird man sie nicht mehr finden, sie heißt jetzt Pörstener Straße. Die Eingemeindungen der neunziger Jahre zwangen zu einem neuen Konzept der Straßennamen. Das Haus Nummer 9 steht aber noch. Paul heiratet. Sie heißt Klara Küchenmeister. Die Ehe steht unter keinem guten Stern. Die beiden haben keine Kinder und trennen sich relativ schnell wieder. Die Scheidung wird aber erst in den dreißiger Jahren rechtskräftig. Da ist Paul schon mit Martha zusammen, meiner Großmutter. Martha ist Mitte zwanzig und das, was man ein hübsches Mädchen nennt, schlank und zart gebaut. Ihre Stiefmutter hatte ihr immer wieder prophezeit, dass sie mit ihren dünnen Beinen nie einen Mann bekommen würde. Und nun war es gleich der "schönste Mann von Kleinzschocher". Aber das Zierliche an ihr täuscht. Sie ist resolut, bisweilen jähzornig und kann arbeiten wie ein Tier. Das wird sie auch ihr ganzes Leben lang tun, für sehr sehr wenig Geld. Noch mit achtzig Jahren sollte sie für Rentnerinnen aus der Nachbarschaft einkaufen gehen. Oma erzählte mir einmal, wie sie sich kennen gelernt haben. Mir ist nur noch in Erinnerung, sie waren irgendwie plötzlich zu zweit in einem Zimmer und er hielt sie fest. "So Gleene, nu lass'ch dich nie widder los." Er hat sein Versprechen gehalten.

Sie sind noch nicht verheiratet, Paul ist noch nicht mal geschieden, da kommt schon die erste Tochter zur Welt, Margot am 09. Juli 1927. Pauls Zimmer in der Miltizer Straße wird enger. Noch enger wird es, als am 05. Februar 1929 Gerda das Licht der Welt erblickt. Die beiden Töchter dürfen aber noch erleben, dass ihre Eltern heiraten. Mitte der dreißiger Jahre werden sie richtig eheliche Kinder. In der Wohnung leben neben diesen vieren noch Pauls Stiefmutter, Marie, und deren Sohn Walther. Dieser Walther ist verheiratet. Seine Frau wird in Pauls Familie nur "Die Dicke" oder, wenn es richtig hart auf hart kommt, "De Fedde" genannt. Es gibt oft Streit. Es ist "ungemiedlich". Und das ist jedem und am meisten noch dem Leipziger zuwider. Paul war in den Kleingartenverein "Vergissmeinnicht" eingetreten. Auf seinem Gartengrundstück baut er nun die Laube zu einem festen Sommerwohnsitz aus. Die Familie verbringt den Sommer dort und lebt von dem, was der Garten bietet. Und in dieser Laube kommt am 01. Juli 1937 Ingrid zur Welt, meine Mutter.

Ingrid ist gerade ein paar Wochen alt. Eines Nachts schreit sie. Ihre Mutter will, dass Paul schlafen kann. Sie holt das Kind aus dem Stubenwagen und nimmt es mit zu sich ins Bett. Als Beleuchtung dienen in der Laube nur Petroleumlampe und Kerzen. Eine dieser Kerzen auf dem Tisch brennt noch. Ein Luftzug durch das geöffnete Fenster bläst die Gardine auf den Tisch. Die Gardine streift die Kerze. Die Kerze fällt in den Stubenwagen. Der Stubenwagen fängt an zu brennen. Paul merkt, dass etwas in seiner Laube nicht stimmt. Er sieht den brennenden Stubenwagen und wähnt seine jüngste Tochter darin. Er will den brennenden Wagen aus der Laube bringen. Sein Fahrrad steht im Weg. Er muss es erst zur Seite schieben. Er ist hektisch und fahrig. Es geht alles nicht so schnell wie es müsste. Als seine Frau aus der Laube kommt, um ihn zu beruhigen, liegt er auf dem Weg. Ein Herzanfall hatte ihn ohnmächtig gemacht und umgeworfen. Neben vielen anderen Krankheiten in den nächsten Jahren werden ihn Herzprobleme immer wieder plagen. Dies war "nur" die Overtüre.

Im Jahre 1943 ist es soweit, Paul und seine Familie ziehen aus der Enge der Miltizer Straße aus. Er hat das Angebot, in einem Haus in der Thomasiusstraße als Hauswart zu arbeiten. Von 45 Mark Miete werden ihm dazu 15 Mark erlassen. Aber es fällt ihm vieles schon schwerer. Zu den Herzproblemen hat sich Asthma gesellt. Die Hauswartswohnung liegt im vierten Stock des gutbürgerlichen Hauses. Es sind insgesamt 92 Stufen zu bewältigen. Er wird immer häufiger verschnaufen müssen. Fast auf jedem Absatz muss Halt gemacht werden. Vielleicht hätte er auch mit dem Rauchen aufhören sollen. Das tat er aber nicht. 1945 muss er ins Krankenhaus. Der Grund ist ein Nierenversagen. Sind das Spätfolgen des Aufenthalts im kalten Wasser der Ägäis am 20. Januar 1918? Es ließe sich darüber nur spekulieren, aber die Wahrscheinlichkeit dürfte recht groß sein.

Zu Weihnachten 1945 kommt seine Stiefmutter ein letztes Mal auf Besuch. Wenige Tage später stirbt sie. In Pauls Familie wird der Vorwurf laut, ihr Sohn Walther und "Die Dicke" hätten sie verhungern lassen. Die Beziehungen zur Miltizer Straße brechen damit ab. Was bleibt, ist der Weg zwischen Thomasiusstraße und dem Garten in Kleinzschocher, den auch meine Mutter immer wieder geht, mal mit Handwagen, mal ohne. Und Paul geht es immer schlechter. Seine Frau wäscht und macht Aufwartung. Für einen ganzen Tag im Waschhaus bekommt sie 10 Mark. Dieses Waschhaus ist ein Raum im Keller der Thomasiusstraße, den man über eine separate Treppe vom Hof aus erreicht. Acht gemauerte Stufen führen in einen Raum mit einem großen Kessel, unter dem Feuer gemacht werden muss. Bettwäsche und Tischtücher werden nach dem Trocknen "zur Rolle" gebracht, einem großen elektrischen Ungetüm am anderen Ende der Straße. Tagaus, tagein waschen, um die Familie und einen kranken Mann zu ernähren. Eines Tages geht Martha und kauft für Paul auf dem Schwarzmarkt ein Stück Butter. Es kostet zweihundertfünfzig Mark.

Im Jahre 1950 hat sich Pauls Gesundheitszustand dramatisch verschlechtert. Er ist zu allem Unglück auch noch an TBC erkrankt. Es ist zwar keine offene TBC, aber schlimm genug für den Asthmatiker. Im Sommer dieses Jahres muss er ins Krankenhaus. Er wird auf die TBC-Station eingeliefert. Vielleicht war das falsch, denn eigentlich hatte er wieder Herzbeschwerden. Aber wie wollte man das noch unterscheiden? Am 01. Juli 1950 feiert seine Tochter Ingrid, meine Mutter, ihren dreizehnten Geburtstag. Es sind ein paar Freundinnen eingeladen und es wird am Abend etwas später als üblich. Ihre Mutter kommt noch einmal in ihr Zimmer. Sie sagt, dass sie morgen waschen geht. Sagt sie zu wem? Ingrid wird es nicht mehr wissen. Sie feiert mit ihren Freundinnen und schläft sich am nächsten Morgen aus. Es klingelt an der Tür. Verschlafen öffnet das Mädchen. Ein Mann steht da, sagt, er käme vom Krankenhaus. Der Vater läge im Sterben und jemand von der Familie solle doch kommen. Da steht nun ein Mädchen von dreizehn Jahren, hat diese furchtbare Nachricht und weiß nicht, wo sie die Mutter finden kann. Sie zieht sich an und rennt los. Rennt zunächst nach Kleinzschocher zum Garten. Das sind knapp 6 Kilometer. Dort findet sie niemanden vor, wie denn auch, ihre Mutter ist bei Leuten waschen. In ihrer Panik kommt Ingrid auf den Gedanken, zu ihrer großen Schwester zu laufen. Diese war, nach ihrer Heirat, in die Könneritzstraße in Schleußig gezogen. Das sind drei Kilometer. Ingrid läuft, rennt los. Margot ist daheim. Sie erinnert sich, dass die Mutter bei Familie Zorn wäscht. Ingrid soll zu Zorns laufen, sie selbst fährt sofort ins Krankenhaus, damit jemand beim Vater ist. Ingrid ist schon stark erschöpft. Die Zorns wohnen in der Schwägerichenstraße. Das sind noch einmal 2 Kilometer. Völlig abgejagt findet sie dort ihre Mutter. Diese macht sich sofort auf den Weg. Als sie im Krankenhaus ankommt findet sie Margot am Bett ihres Mannes.

In ihrer Erinnerung spielte sich die Szene so ab, dass sie gerade beim Betreten des Raumes noch seinen letzten Seufzer, sein letztes Ausatmen gehört hat. Sie war bei ihm im Moment, da er starb. Die Erinnerungen meiner Tante Margot sagen etwas anderes, aber lassen wir es so stehen, wie es mir meine Großmutter erzählte ...